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Günter Lehnert: Was ist das, Grotowski-Training ?

Peter Rissmann: Beim Grotowski-Training erfinde ich mich neu, immer wieder, jeden Tag. Und dadurch entdecke ich die Fülle, die in mir steckt, - und die Fülle rings um mich herum. Manchmal erlebt man sich selber als flach in einer flachen Welt, man hat gleichsam ein 2-D-Gefühl, man schiebt sich durch den Tag. Beim Grotowski-Training tut sich die Chance auf, die Welt rings um mich herum wahrzunehmen (auch im Rücken) und mich selbst als jemanden zu erleben, der rings um sich herum lebendigen Einfluss nimmt. Ich entwickle eine 3-D-Vitalität.
Grotowski-Training geht von der Voraussetzung aus, dass Bewegung unser «natürlicher» Zustand ist. Wir sind in Bewegung seit wir im Mutterbauch entstanden sind. Beim Kleinkind sind die Möglichkeiten an Bewegungen und die Kondition dazu enorm. Diese Sinfonie an Bewegungen wird nur durch den Schlaf unterbrochen. Und dann, eines Tages, soll sich das Kind plötzlich auf etwas konzentrieren. Diese Aufgabe wird von außen an das Kind herangetragen, wir Erwachsene greifen als Eltern, als Erzieher in den Rhythmus des Kindes ein. Je nachdem, wie gewaltsam das von dem Kind empfunden wird, reagiert es mit Protest oder mit Resignation.
Der Protest zieht immer härtere Erziehungsmaßnahmen nach sich. Bei der Resignation läuft die Lebendigkeit aus dem Kind heraus wie Wasser aus einer umgekippten Flasche, der Muskeltonus erschlafft. Während sich beim aufbegehrenden Kind, das auf immer größeren Widerstand der Erwachsenenwelt stößt, die Muskelverspannungen häufen, die Energie wird in den Muskeln und in den Gelenken gebunden. Die Lust an der Vitalität wird gebrochen, - und Vitalität ist Bewegung.
Da haben wir dann Jugendliche, die einerseits an Tischen und vor Bildschirmen sitzen und andererseits im Schulsport bewegt werden müssen. Wir werden aufgespalten, wir haben den Alltag voll von minimalisierten Bewegungen und auf der anderen Seite den Sport oder den Discotanz, und auch da sind die Bewegungen ritualisiert. Unsere Vitalität, unsere Gefühle, unsere Phantasie und unsere Bewegungen haben sich voneinander gelöst. Genau das war im freien Kinderspiel noch nicht der Fall. Der Weg, den das Grotowski-Training geht, ist es, den Kontakt von Bewegung, Gefühl und Phantasie wiederherzustellen.
Den natürlichen Strom, in dem das alles zusammenwirkt wieder zu entdecken, wieder zu erwecken. Erstens fühlen wir uns dann weniger zerstückelt, weniger uns selbst entfremdet. Und zweitens ist diese Integration, das Wiederentdecken der Fülle, der Vitalität eine wunderbare Voraussetzung für künstlerische Tätigkeit im darstellenden Bereich: Für Schauspieler, für Tänzer.

G.L. Grotowski-Training ist also keine Methodik um schauspielerische Fertigkeiten zu entwickeln, wie z.B. das MethodeActing der Strasberg-Schule oder die Übungen von Michael Tschechow ?

P.R. Richtig. Das Grotowski-Training arbeitet all diesen verschiedenen Methoden zu, in dem es durch die Arbeit an der Integration von Psyche und Körper die Voraussetzung schafft, dass all diese Methoden besser greifen können. Dass die Arbeit an Rollen, die vielleicht parallel zum Grotowski-Training stattfindet, erleichtert wird. Die innere Bewegung wird wieder an die äußere Bewegung gebunden, emotion durch motion entwickelt und umgekehrt.

G.L. Wie sieht das Training denn jetzt praktisch aus, es gibt ja viele Möglichkeiten in Bewegung zu sein ?

P.R. Es gibt eine Anzahl von vorgegebenen Bewegungen, den sogenannten «details». Das entspricht in etwa den Noten und den Harmonien, die ich kennenlerne, wenn ich beginne, ein Instrument zu spielen. Wenn ich die beherrsche, kann ich anfangen, auf dem Instrument zu improvisieren. Die «details» erleichtern es dem Körper, der noch nicht wieder an das «Naturgesetz» der permanenten Bewegung gewohnt ist, im Bewegungsfluss zu bleiben. Diese «details» werden in der Ausführung zu Handlungen. Dann bewerte ich diese Handlungen, indem ich eine emotionale Haltung dazu einnehmen. Ich führe sie nicht mechanisch aus, sondern nehme das Gefühl mit, das dabei entsteht. Das «detail», die Handlung, die emotionale Bewertung dieser Handlung sind mein Leben in diesem Moment. Danach entsteht ein neuer Moment, ein neues Leben. Wie eine Brücke, die hinter mir abbricht und vor mir neu entsteht. Eine Vitalität, die sich immer wieder wandelt und erneuert. Wenn das alles gut läuft, entsteht meine Energie immer wieder neu. Obwohl ich keine Energie zurückhalte, fließt sie immer wieder zu mir zurück. Also so, wie es beim Kinderspiel läuft, wir schauen von außen drauf und staunen über die nicht enden wollende Energie. Dann fallen die Kids ins Bett und schlafen gut. Wir gehen vom Schreibtisch ins Bett und wundern uns, dass wir Einschlafstörungen haben.
G.L. Muss ich erst wochenlang Dutzende von «details» üben, ehe ich anfangen kann, zu improvisieren?

P.R. Es genügen schon zwei oder drei «details», um damit improvisieren zu können. In der Regel kommt jeder mit acht bis zehn «details» aus. Das Geheimnis der Energie, die zu uns zurückfließt, besteht unter anderem darin, dass wir die Hingabe entdecken: Je mehr Energie, je mehr Vitalität wir zurückhalten, desto weniger fließt auch zurück zu uns. Wir entdecken mit und mit die Fülle, die wir zur Verfügung stellen können, und wie wir sie zur Verfügung stellen können.

G.L. Wodurch mache ich diese Entdeckungen ?

P.R. Durch's Tun. Die größte Selbstverständlichkeit entsteht bei der täglichen «Exkursion». Und durch den Trainer. Der beobachtet mich und gibt mir Hinweise, auf welchem Wege ich die Fülle in mir zur Verfügung stellen kann. Jeder hat einen anderen Körper, andere Verspannungen, Blockaden, eine andere Lebensgeschichte in seinem Körper. Für den Fall, dass ein tägliches Training nicht möglich ist, weil der Stundenplan auf einer Schauspielschule nicht danach ausgerichtet werden kann, habe ich eine Reihe von Übungen zusammengestellt und entwickelt, die jeweils den Einstieg erleichtert, wenn man nur 2 oder 3x wöchentlich trainieren kann.


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